D‘Alembert: Ich wünschte, Sie sagten mir, welchen Unterschied Sie sehen zwischen dem Menschen und der Statue, dem Marmor und dem Fleisch.
Diderot: Nicht viel. Man macht Marmor aus Fleisch und Fleisch aus Marmor.
D‘Alembert. Aber das eine ist nicht das andere.
Diderot: Wie das, was sie lebendige Kraft nennen, nicht die ruhende Kraft ist.
D‘Alembert: Ich verstehe sie nicht.
Diderot: Ich will mich erklären: das Fortbewegen eines Körpers von einem Ort zum andern ist nicht die Bewegung an sich, sondern ihre Wirkung. Die Bewegung selbst [d.h. Wärme] ist im fortbewegten Körper und im ruhenden Körper zugleich vorhanden.
D‘Alembert: Diese Art der Bewegung ist neu.
Diderot: Aber darum nicht weniger wahr. Nehmen Sie den Widerstand weg, der dem Fortbewegen eines Körpers entgegensteht, und der Körper wird sich bewegen. Ziehen Sie aus der Umgebung dieses riesigen Eichenbaumes plötzlich die Luft, dann wird das Wasser, das in ihm ist, sich im gleichen Augenblick ausdehnen und ihn in tausend Stücke bersten lassen. Das gleich gilt von ihrem Körper.
D‘Alembert: Gut. Aber was hat die Bewegung mit der Empfindung zu tun? Erkennen sie etwa auch eine aktive und eine latente Empfindung, so wie es eine aktive und eine latente Kraft gibt?
Diderot: Wahrhaftig, genau so.
D‘Alembert: So besitzt die Statue nur eine latente Empfindung, und der Mensch, das Tier, selbst die Pflanze vielleicht, sind mit aktiver Empfindung begabt.
Diderot: Dieser Unterschied besteht ohne Zweifel zwischen dem Marmor und dem Gewebe des Fleisches, aber Sie müssen zuegeben, das ist nicht der einzige.
D‘Alembert: Sicher. Welche Ähnlichkeit auch in der äußeren Form zwischen dem Menschen und der Statue bestehen mag, so gibt es keinerlei Übereinstimmung in ihrem inneren Aufbau. Der Meißel des geschicktesten Bildhauers vermag nicht einmal eine Epidermis zu schaffen. Aber es gibt ein sehr einfaches Verfahren, um eine latente Kraft in eine lebendige Kraft zu verwandeln. Dieser Vorgang wiederholt sich vor unseren Augen hundertmal am Tage; dagegen sehe ich nicht klar, wie man einen Körper aus dem Zustand der latenten Empfindung in den Zustand der aktiven Empfindung überführen kann.
Diderot: Weil Sie es nicht sehen wollen. Es ist eine ebenso alltägliche Erscheinung.
D‘Alembert: Und diese alltägliche Erscheinung – wie ist sie, wenn ich bitten darf?
Diderot: Ich will es Ihnen sagen, da Sie sich durchaus beschämen lassen wollen. Es geschieht jedesmal, wenn sie essen.
D‘Alembert: Jedesmal, wenn ich esse!
Diderot: Ja, denn was tun sie beim Essen? Sie heben die Widerstände auf, die sich dem Aktivwerden der Empfindung in der Nahrung entgegensetzen. Sie assimilieren sie sich. Sie machen Fleisch daraus. Sie verwandeln sie in einen tierischen Stoff. Sie machen sie damit empfindungsfähig. Und was Sie mit einem Nahrungsmittel tun, das kann ich, wenn es mir passt, jederzeit mit dem Marmor tun.
D‘Alembert: Wie das?
Diderot: Wie? Indem ich ihn essbar mache.
D‘Alembert: Den Marmor essbar machen? Das scheint mir nicht eben leicht zu sein.
Diderot: So will ich Ihnen den Vorgang erklären. Ich nehme zum Beispiel diese Statue hier, werfe sie in einen Mörser, und mit gewaltigen Schlägen eines Stampfers…
D‘Alembert: Bitte Vorsicht! Es ist ein Meisterwerk von Falconet. Wenn es noch wenigstens ein Stück von Huez oder einem anderen wäre…
Diderot: Das macht Falconet nichts aus! Die Statue ist bezahlt, und Falconet macht sich wenig aus der gegenwärtigen Wertung und schon gar nichts aus der zukünftigen.
D‘Alembert: Na gut, dann pulverisieren Sie weiter!
Diderot: Wenn der Marmorblock zu ganz klarem Pulver zerstoßen ist, vermische ihn ihn mit Humus, also vegetabiler Erde. Ich knete sie gut zusammen, befeuchte die Mischung, lasse sie ihn Fäulnis übergehen, ein Jahr, zwei Jahre, ein Jahrhundert; die Zeit spielt keine Rolle. Wenn sich dann alles in eine ungefähr gleichartige Materie verwandelt hat, in Humus, wissen Sie, was ich dann tue?
D‘Alembert: Ich bin überzeugt, Sie werden nicht gerade Humus essen!
Diderot: Nein! Aber es gibt ein Mittel zur Verbindung, zur Angleichung zwischen dem Humus und mir, einen Latus, wie der Chemiker sagt.
D‘Alembert: Und dieser Latus ist die Pflanze?
Diderot: Sehr gut. Ich säe Erbsen, Kraut und andere Gemüsepflanzen. Die Pflanzen nähren sich von der Erde, und ich ernähre mich von den Pflanzen.
D‘Alembert: Ob richtig oder falsch, mir gefällt dieser Übergang von Marmor zu Humus, vom Pflanzenreich ins Tierreich, zum Fleisch. […]
Diderot: Wenn Sie die Frage der Priorität des Eies vor der Henne oder der Henne vor dem Ei beunruhigt, dann nehmen Sie an, dass die Tiere ursprünglich das gewesen sind, was sie heute sind. Welch ein Unsinn! Wir wissen ebenso wenig, was sie gewesen sind, wie das was sie werden können.Das unsichtbare Würmchen, das im Schlamm kriecht, wird vielleicht eines Tages ein großes Tier – das ungeheure Tier, das uns durch seine Größe erschreckt, entwickelt sich vielleicht eines Tages zum winzigen Wurm, ist vielleicht ein besonderes augenblickliches Produkt dieses Planeten. […]
Diderot: Sehen Sie dieses Ei? Damit kann man alle Theologenschulen und Tempel der Welt umstürzen. Was ist dieses Ei? Eine fühllose Masse, ehe der Keim hineingebracht ist. Und nachdem der Keim eingeführt ist, was ist es dann? Immer noch eine fühllose Masse; denn der Keim ist nur träger, dickflüssiger Schleim. Wie kommt diese Masse zu einer anderen Struktur, zur Empfindung, zum Leben? Durch die Wärme. Was erzeugt die Wärme? Die Bewegung. Welches sind die aufeinanderfolgenden Wirkungen der Bewegung? Statt mir zu antworten, setzen Sie sich, und verfolgen wir den Prozess mit unseren Blicken. Zuerst ist es ein schwankender Punkt, ein sich ausbreitendes Gewebe, das Farbe annimmt; Fleisch bildet sich, ein Schnabel, Flügelansätze, Augen, Füße erscheinen, eine gelbliche Masse schnürt sich ab und wird zu Eingeweiden, es ist ein Tier. Das Tier rührt sich, bewegt sich, schreit. Ich höre seine Schreie durch die Schale. Es bedeckt sich mit Flaum, es sieht. Die Schwere seines schwankenden Kopfes lässt seinen Schnabel immer wieder gegen die innere Wand seines Gefängnisses stoßen – da ist es zerbrochen – das Tier kriecht heraus, läuft, fliegt, ängstigt sich, flüchtet, kommt heran, klagt, leidet, liebt, begehrt, genießt: es kennt alle Ihre Stimmungen, es handelt wie Sie. Werden Sie mit Descartes behaupten, dass es eine rein nachahmende Maschine sei? Die kleinen Kinder werden sich über Sie lustig machen, und die Philosophen werden Ihnen antworten: Wenn das eine Maschine ist, dann sind Sie auch eine. […] Wenn man eine träge, mit bestimmten Anlagen versehene Masse mit einer anderen trägen Masse in Verbindung bringt unter Zuhilfenahme von Wärme und Bewegung, so erhält man Empfindung, Leben, Gedächtnis, Bewusstsein, Leidenschaft, Denken.[…]
D‘Alembert: Ohne das Wesen der Empfindung oder das der Materie zu erkennen, sehe ich, dass die Empfindung eine einfache Eigenschaft ist: einheitlich, unteilbar und unvereinbar mit einem teilbaren Gegenstand oder Träger.
Diderot: Das ist ja metaphysisch-theologischer Galimathias. Sehen Sie denn nicht, dass alle Eigenschaften, alle Empfindungsformen, mit denen die Materie ausgestattet ist, ihrem Wesen nacht unteilbar sind. Sie sind darum nicht mehr oder weniger unerforschlich. Es gibt zwar die Hälfte eines runden Gegenstandes, aber nicht die Hälfte der Rundheit. Es gibt zwar mehr oder weniger Bewegung, aber Bewegung ist Bewegung. Es gibt weder eine Hälfte, noch ein Drittel, noch ein Viertel eines Kopfes, eines Fingers, ebensowenig wie die Hälfte, das Drittel, das Viertel eines Gedankens. […] Geben Sie zu, dass die Teilung unvereinbar ist mit dem Wesen der Formen; denn die würde sie zerstören. Seien Sie Physiker und geben Sie die Wirkung zu, wenn Sie das Produkt sehen, selbst wenn Sie die Verbindung zwischen Ursachhe und Wirkung nicht erklären können! […]
D‘Alembert: Leb wohl, mein Freund! Guten Abend und gute Nacht!
Diderot: Sie scherzen. Aber Sie werden in Ihren Kissen von dieser Unterhaltung träumen. Wenn Sie da keine feste Gestalt annimmt, um so schlimmer für Sie; denn Sie werden noch viel lächerlichere Hypothesen annehmen müssen.
D‘Alembert: Sie irren sich, ich werde mich als Skeptiker ins Bett legen und als Skeptiker wieder aufstehen.
Diderot: Skeptiker! Wie kann man Skeptiker sein!
D‘Alembert: Das wird ja immer schöner! Jetzt werden Sie wohl noch behaupten, dass ich kein Skeptiker bin! Schließlich muss ich das am besten wissen.
Diderot: Warten Sie einen Augenblick!
D‘Alembert: Beeilen Sie sich, ich möchte schlafen.
Diderot: Ich werde kurz sein. Glauben Sie, dass es eine einzige Frage gibt, über die ein Mensch im Laufe einer Diskussion mit voller Überzeugung in gleich strenger Weise das Für und Wider vertreten kann?
D‘Alembert: Nein, dann wäre er wie Buridans Esel.
Diderot: In diesem Falle gibt es also keinen Skeptiker; denn außer den mathematischen Fragen, in denen es keinerlei Unsicherheit gibt, finden wir für alle anderen ein Für und Wider. Die Waage stellt sich also niemals ein, und sie muss sich notwendig nach der Seite neigen, auf der wir die größte Wahrscheinlichkeit glauben.
D‘Alembert: Aber ich sehe am Morgen die Wahrscheinlichkeit rechts und nachmittags links.
Diderot: Das heißt, dass sie morgens dogmatisch dafür und nachmittags dogmatisch dagegen sind.[…]
Diderot: Guten Abend, mein Freund! Und denke daran, dass du Staub bist und wieder zu Staub wirst.
D‘Alembert: Das ist traurig.
Diderot: Und notwendig. Geben Sie dem Menschen, ich will nicht sagen, die Unsterblichkeit, aber nur die doppelte Lebensdauer, und Sie werden sehen, was passiert.
D‘Alembert: Was soll denn passieren? Was geht mich das an? Mag geschehen, was will, ich will schlafen.
Denis Diderot lebte von 1713 bis 1784, gab – zusammen mit D‘Alembert – die Encyclopedie heraus und war u. a. der Lieblings-prosewriter Karl Marx‘.
Zitiert nach: Denis Diderot, Erzählungen und Gespräche. Dieterich’sche Verlagsbuchhandlung Leipzig, 1953.